Kretisches Kaffeetagebuch: das Lammwunder von Chania

Wir beziehen unser Quartier in der Nähe des Hafens von Chania, eine grundsanierte Wohnung im Hochparterre eines steinalten Hauses. Von den gibt es viele in den verschiedensten Phasen des Verfalls oder eben als gut renoviertes Anwesen. Direkt hinter dem Haus erlaubt ein Blick in die Gasse einen ersten Eindruck von der Altstadt.

Das Viertel um uns herum hört auf den Namen Kasteli und gilt als eine der ältesten ununterbrochen bewohnten Siedlungsstätten Europas. Funde belegen eine Besiedelung vor 5.400 Jahren, also in der Jungsteinzeit. Später wurde hier in minoischer Zeit die Stadt Kudonija oder später auch Kydonia erbaut. Als Kydonia wird die Stadt und seine Bewohner auch zweimal in der Odyssee erwähnt. So etwa im Neunzehnten Gesang:

Kreta ist ein Land im dunkelwogenden Meere,
Fruchtbar und anmutsvoll und ringsumflossen. Es wohnen
Dort unzählige Menschen, und ihrer Städte sind neunzig:
Völker von mancherlei Stamm und mancherlei Sprachen. Es wohnen
Dort Achaier, Kydonen und eingeborene Kreter,
Dorier, welche sich dreifach verteilet, und edle Pelasger.
Ihrer Könige Stadt ist Knossos, wo Minos geherrscht hat,
Der neunjährig mit Zeus, dem großen Gotte, geredet.

Laut kretischer Sage war Minos oder König Kydon, Sohn des Hermes und der Minos-Tochter Akakallis, Gründer der Stadt. Nach arkadischer Auffassung gründeten hingegen Leute aus Tegea Kydonia, denn Kydon sei ein Sohn des Tegeates gewesen. Bereits Homer gibt an, die Kydonen seien eines der fünf alten Völker Kretas gewesen und hätten beidseits des Flusses Iardanos gesiedelt. Die Kydonen werden auch einmal im 12. Buch der Aeneis von Vergil als gute Bogenschützen erwähnt. Zumindest in der klassischen Antike war Chania nächst Knossos und Gortyn die mächtigste Stadt Kretas.

Heute wird das Ortsbild von Chania hauptsächlich geprägt durch Bauten aus venezianischer Zeit. Rund 450 Jahre herrschte die Republik Venedig über Kreta. Aus dieser Zeit stammt der Hafen, große Teile der Altstadt und auch die Schiffsarsenale, Magazine und Werften. Teile der Stadtmauern hingegen stammen noch aus byzantinischer Zeit. Das Erbe aus der Zeit der türkischen Besatzung ist vergleichsweise gering und beschränkt sich hier im großen und ganzen auf die Hasan-Pascha-Moschee direkt am Hafen. Sie wurde von einem armenischen Architekten errichtet und ist die erste auf Kreta gebaute Moschee. Derzeit wird die Hasan-Pascha-Moschee unter anderem als Ausstellungsraum genutzt.

Über die wechselhafte Geschichte Kretas wird an anderer Stelle noch zu berichten sein. Wagen wir also einen großen Sprung in die Gegenwart! Wir machen eine Spaziergang durch den Hafen, schlagen uns dann durch die Altstadt, umgehen den venezianischen Westwall der Stadtmauern und finden uns schließlich wieder am Hafen ein. Natürlich nicht ohne eine weitere Lektion in Sachen Kaffee.

Habe ich meinen Freunden bereits am Morgen bei unserem ersten Stopp den griechischen Kaffee nahegebracht, so ist diesmal der Frappé dran, ein einfacher Eiskaffee, der mit Nesscafé aufgeschäumt wird. Natürlich mit Blick auf den Hafen und das quirlige Leben dort. Ein ununterbrochener Strom aus Einheimischen und Touristen schiebt sich hier entlang der Kais.

Der Duft von frisch gegrilltem Fleisch durchzieht den Hafen. Schließlich ist nach dem orthodoxen Kalender heute Ostersonntag, der wichtigste Feiertag im kirchlichen Jahreslauf. Vor jeder Taverne dreht sich mindestens ein Spieß mit lecker Lamm. Das erweckt in uns Hoffnung und Appetit. Während wir uns mit einem Gyros-Pita, Oliven und Kalitsounia – Teigtaschen mit Käse gefüllt – begnügen, reservieren wir sicherheitshalber für den Abend in einer Taverne. Unsere Hafenrunde beschließen wir mit einem Bier ungefähr an der Stelle, an der Reisegefährte Martin vor 38 Jahren mit seinem Onkel Hans gesessen hatte.

Trotz unserer Reservierung drohten wir am Abend leer auszugehen, zumindest was das Lamm betrifft. Wie durch ein Wunder war die Nachfrage nach dem frischen Lammspießen wohl unerwartet groß gewesen und so konnten uns die Kellner und Wirte der zahlreichen Tavernen nur mit einem bedauernden Achselzucken vertrösten. Das kann doch nicht wahr sein! Ostersonntag auf Kreta und kein Lamm für uns? Doch unser Flehen wurde erhört. Just in der Taverna Plateia, die ich schon vorher als diejenige ausgemacht hatte, die Nikos Milonás alias Frank D. Müller dazu inspiriert hatte, hier die Familie seines Kommissars Michalis Charisteas als Wirte einquartiert hatte, gab es Lamm für uns im Überfluss.

Dazu Tzatziki, Dolmades und Wein aus Moni Agia Triada Tzagaroli, dem Kloster, dass wir am Morgen besucht hatten. Denn der Anbau von Wein und anderen Früchten des Feldes sichert den Klöstern bis heute mehr oder weniger große Einnahmen. Nachdem es in Griechenland keine Kirchensteuer gibt, sind Priester und Mönche auf derlei Zuverdienst angewiesen. Doch zurück zu unserer leckeren Lammvöllerei in der Taverna Plateia mit Blick auf Hafen und Leuchtturm. Doch so sehr wir den Blick und Anblick genossen, wir hatten die nötige Bettschwere längst erreicht.

Denn zwei Dinge mussten wir in dieser Nacht erkennen: drei Hauptgerichte plus Vorspeisen sind einfach zu viel und für das Nachtleben am heutigen Feiertag sind wir entweder zu alt oder zu erschöpft. Denn während wir mit vollen Mägen zu unserer Behausung strebten, füllten sich Platz, Tavernen, Cafés und Bars erst so richtig. Doch waren wir so gegen 2:00 Uhr in der Früh aufgestanden und 22 Stunden reichen nun wirklich. Zumindest in den 50ern und mit mit Lamm gefülltem Wanst…

Taverna Plateia, Akti Tompazi, Chania, Kreta, Griechenland; Öffnungszeiten: täglich 09:00 – 01:00 Uhr.

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