Mit dem Bus gibt es zwischen Brod und Sarajevo nur einige reguläre Stationen: Doboj, Maglaj, Žepče, Kakanj, Visoko und Ilijaš. Die meiste Zeit geht es durch eine liebliche, gebirgige Landschaft, durch grüne Täler und durch versprengte Dörfer und Weiler. Und dann gibt es Zenica, eine Stadt zwischen Žepče und Kakanj und völlig anders, wie alles, was einem auf dieser Strecke begegnet.

Erst fährt man an zum Großteil brach liegender Bergbau- und Schwerindustrie vorbei, dann erheben sich plötzlich Hochhäuser trotzig aus dem lauschigen Tal der Bosna. Hier verlässt der Bus auch die M17, der er bis dahin so beharrlich folgte. Doch nicht nur das: der Ortseingang scheint auch das Ende der Ausbaustrecke zu sein, denn von dort an quält sich der Bus über eine Schlaglosch- und Schotterpiste zum Bahnhof, beziehungsweise zum Busbahnhof daneben. Hält der Bus, dann stürmst eine Horde braungebrannter Roma-Kinder den Bus, in der Hoffnung auf Kleingeld.

Ich widerstehe der Versuchung auszusteigen, schwöre mir aber zurück zu kehren. Nach Srebrenica. Und ich nehme den Zug, was schon ein Abenteuer für sich ist, dafür aber billiger. Da ich nur ein Reisbudget von 400 Euro habe, spare ich mir den Bus. Mein Plan: mit dem Zug in der früh nach Zenica, mit dem Mittagszug wieder ein Stück zurück nach Visoko. Und dann irgendwie nach Sarajevo.

So kommt es, dass ich nach einer Zugfahrt in einer Garnitur, die schon zu DDR-Reichsbahn-Zeiten outdatet war, allerdings ohne den Charme der hölzerne S-Bahnen in Berlin, um 9:00 morgens am Bahnhof von Zenica stehe. Die Bahnhofshalle ist – leer! Keine Schalter, keine Bänke, ja nicht einmal Reklame. Dieser Bahnhof wirkt eher wie ein Lost Place als ein Verkehrsknotenpunkt. Ein Grund mag sein, dass die meisten Bosnier den Bus nehmen. Das marode Schienennetz und die Kriegsschäden haben ihr übriges getan.

Zenica ist heute die viertgrößte Stadt des Landes. Sie liegt im Zentrum des Staates Bosnien und Herzegowina, rund 70 Kilometer nordwestlich von Sarajevo. Die Stadt liegt im Bosna-Tal, in einem der größten und schönsten Täler Bosniens, umgeben vom bewaldeten Mittelgebirge der Dinariden. Schon in der Bronze-Zeit siedelten hier Illyrer, vor knapp 2.000 Jahren kamen dann die Römer. Im Mittelalter war hier eines der Zentren des Fürstentums und späteren Königreichs Bosnien. 1463 fiel Bosnien unter die Herrschaft der Osmanen und viele Bewohner konvertierten zum Islam, Zenica aber verlor an Bedeutung, wurde aber trotzdem während der großen Türkenkriege Ende 1697 von Eugen von Savoyen vollständig niedergebrannt, die Bewohner getötet oder verschleppt.

Der erneute Aufstieg Zenicas begann unter der Besatzung durch Österreich-Ungarn. Zum einen wurde die Stadt an das Bahnnetz angeschlossen, zum anderen wurde seit 1880 Kohle abgebaut. Der Bau der Industrieanlagen und die Einführung der modernen Technologien führte zu einer raschen Zunahme der Bevölkerung. Lebten um 1879 noch 2.000 Menschen in 438 Häusern, so wohnten 1910 hier bereits 7.000 Menschen in rund 1.000 Häusern. Es gab Schulen, Schauspielschulen und je eine katholische und eine orthodoxe Konfessionsschule und drei Medresen. Dazu kamen ein Elektrizitätswerk, eine Eisenhütte, seit 1910 Telefon und moderne sanitären Anlagen.

In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen wurde die Industrie weiter ausgebaut, so dass 4.000 Arbeiter beschäftigt wurden. Die Einwohnerzahl wuchs auf über 9.000. Im sozialistischen Jugoslawien Titos wuchs die Stadt von 15.500 Menschen 1948 auf fast das zehnfache vor dem Bosnien-Krieg an. Das Stahlwerk wurde enorm erweitert und gehörte dann zu den größten Europas. Durch diesen zweiten industriellen Entwicklungsschub veränderte sich das Stadtbild: Zenica erhielt wegen der vielen Plattenbauten den Ruf einer grauen Arbeiterstadt.

In Zenica gibt es sehr viele Hochhäuser. Manche von diesen Häusern sind über 50 Jahre alt und nicht besonders schön. Einige sind aber architektonisch sehr interessant, wie beispielsweise das 28-stöckige sogenannte Lamela. Es ist mit einer Höhe von 101 Metern das höchste Wohngebäude der Stadt. Nur wenige Schritte weiter ist das ehemalige Hotel Internacional, bei seiner Eröffnung 1978 eines der besten Hotels des Landes.

Für beide Gebäude am Bulevar Kulina bana verantwortlich zeichnet der Architekt Slobodan Jovandić. Während das Lamela weiterhin bewohnt wird, wurde das Hotel während des Krieges geschlossen und nicht wieder geöffnet. Während des Bosnienkrieges 1992–1995 hatte Zenica überhaupt eine herausragende Rolle: Die Stadt nahm viele Flüchtlinge aus allen Teilen Bosnien und Herzegowinas auf. Seit 2002 ist Zenica Universitätsstadt.

Schauen wir uns die Stadt noch einmal genauer an. Zwischen Bahnhof und Bosna liegt der Stadtteil Blatuša. Schon der Grundriss verrät, dass dieses Viertel auf dem Reißbrett entstanden ist. In den Erdgeschossen der Häuser sind einige Läden und kleine Restaurants untergebracht. Genau genommen hat man hier eine hübsche Sicht auf den Fluss – wäre da nicht die Autobahn dahinter.

In der Schleife der Bosna Richtung Süden liegen der Turski Park und einige Sportstätten. Wer von Blatuša über die Bosna will, nimmt gerne einmal die Eisenbahnbrücke als Abkürzung. Züge fuhren zu der Zeit etwa sechs bis zehn mal am Tag. Von der Halbinsel aus hat man einen Schönen Blick auf den recht grünen Stadtteil Jalija und auf das Lamela, dass wie ein Riese aus der Silhouette der Stadt hervorragt.

Im Westen liegt Nova Zenica, wobei das schon fast redundant ist, scheint hier doch alles einigermaßen neu, beziehungsweise scheint vor 50 Jahren neu gewesen zu sein. Für ein „Novi“ fehlt ein echtes „Stari“, da von der alten Bausubstanz nur wenige Gebäude erhalten sind. Darunter das Hadžimazića Kuća, ein traditionelles bosnisches Haus und das katholische Pfarrhaus von 1910. Das Bosnisches Nationaltheater hingegen ist ein futurischer Bau – trotzdem sehenswert.

Trotz seines Rufs als graue Arbeiterstadt hat Zenica auch schöne Ecken zu bieten, zahlreiche Fußgängerzonen und viel Sport. Doch der Bulevar Kralja Tvrtka I vor dem Bahnhof scheint eher nicht dazu zu gehören. Hat man sich an den sozialistischen Charme gewöhnt, dann findet man auch hier ein ruhiges Plätzchen. Den Kaffee habe ich damals zwar nicht fotografiert, wohl aber das Café am Bahnhof. Denn bis zur Abfahrt des Zuges hatte ich noch etwas Zeit.

Die Aussicht auf den damals etwas heruntergekommenen Bulevar Kralja Tvrtka I verdeutlicht die Misere des Landes. Obwohl die Wohnbauten aus der Ära Tito inzwischen marode und heruntergekommen sind, ist man doch dankbar für den günstigen Wohnraum und geplante und in Teilen funktionierende Infrastruktur. Schön war diese Architektur nie, doch war das mit unseren Wirtschaftswunder-Planstädten anders? Ein frischer Straßenbelag könnte hier trotzdem nicht schaden.

Und auch der Blick in die Geschäfte lässt vermuten, das Bosnien in den 2010er Jahren schlicht abgehängt war. Abgehängt von der Wirtschaft, abgehängt vom Wachstum, abgehängt vom Wohlstand. Auch wenn sich in den letzten Jahren einiges getan hat – dieser Besuch war 2008, das muss man im Blick behalten – so lange man Bosnien von der EU ausschließt, wird das Land nie die Stabilität erreichen, die es bräuchte. Nach diesen Gedanken wird es Zeit zum Zug zu gehen…

Es kam mir merkwürdig vor, dass ich der Einzige war, der sich für diesen Zug zu interessieren schien. Sonst nahm keiner davon Notiz. Also wartete ich von wachsenden Zweifeln geplagt auf das Eintreffen eines zwar seltenen, aber offenbar unwichtigen Ereignisses. Oder anders gesagt: ich stand dumm am Bahnsteig rum. Hatte ich am Fahrplan vielleicht etwas übersehen? Als dann am Horizont der altertümlich wirkende Zug auftauchte, war ich erleichtert.

Quellen: Wikipedia, Wiki Voyage, kathmanduandbeyond.com.

Da gab es ihn also wieder, meinen „Bosanska Kava“.
Wollen wir diesen bosnischen Kaffeemoment gemeinsam erleben? Wenn Dir dieser Beitrag gefällt, dann freue ich mich über ein Trinkgeld!
3,90 €
,a w
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Ein sehr interessanter Bericht über ein Land, das nicht gerade als Touristenland gilt und in das man selten kommt.
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Trotzdem gibt es viele sehenswerte Orte.
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Ein Bahnhof exklusiv für dich alleine – was für ein Privileg!
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Ja, das hat etwas Exklusives.
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Zug fahren schient dort nicht besonders in zu sein 🙂 Und du hattest Recht, die Architektur ist sowas von postsowjetisch… Schön ist sie nicht, aber meine Mutter (wir haben in Polen auch viele solcher Bauten) äußerte sich mal dahingehend: „Sie bieten günstigen Wohnraum für viele Menschen, die sich die Stadt vielleicht nicht leisten könnten. Wozu sie abreißen? Wenn sie da sind, sind sie nun mal da…“ Das ist osteuropäischer Pragmatismus 🙂
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Richtig: für viele Menschen ist das wohl der Lebensmittelpunkt. Und anders, als bei uns, gibt es noch zahlreich kleine Läden, Imbisse, Cafés und Kioske. Außerdem kann ich manchen Bauten des postsowjetischen Brutalismus sogar etwas abgewinnen. Nur wohnen möchte ich da nicht unbedingt. Mir reicht die Erinnerung an meine Einraumwohnung in Berlin-Hohenschönhausen…
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