Das Jahr 1822 gehört zu einer finsteren Zeit für die Bewohner von Tinos. Auf der Insel wütete die Pest und man befand sich im Krieg gegen die osmanischen Besatzer. Da erschien – so die Erzählung – der orthodoxen Ordensschwester Pelagia Negreponte vom Kloster Kechrovoúni mehrfach die Gottesmutter im Traum. In einer dieser Versionen beschrieb Maria eine Stelle am damaligen Stadtrand von Tinos-Stadt. An genau dieser Stelle wurde am 30. Januar 1823 eine Marienikone ausgegraben.
Am Fundort errichtete man noch im selben Jahr die Wallfahrtsbasilika Panagia Evangelistria. Doch weit größer war die psychologische Wirkung des Funds, sprach man doch der Ikone wundersame Kräfte zu. Und so verschwand nicht nur die Pest von der Insel, auch die Türken konnten besiegt und vertrieben werden. Heute ist Tinos die wichtigste Marien-Wallfahrtsstätte Griechenlands und wird oft als „das griechische Lourdes“ bezeichnet. Im ganzen Jahr, vor allem am 25. März und zu Mariä Himmelfahrt am 15. August strömen mehrere zehntausend Pilger in die Wallfahrtsbasilika, um das wundertätige Marienbild zu verehren.

Wir verbrachten einen traumhaften Urlaub im entlegenen Panormos. Schon morgens kochte unsere Zimmerwirtin griechischen Kaffee für mich. Der Strand lag direkt vor de Tür. Das Taxiboot brachte einen an eine Bucht, die man zu Fuß nur schwerlich erreichen konnte und hielt einen Pendelverkehr aufrecht. Meine Stunde schlug aber erst um 17:00 Uhr, dann wenn der letzte Linienbus die Tagestouristen einsammelte und ich Hafenbucht und Strand und Meer für mich alleine hatte.
Doch es gab noch mehr zu entdecken. In der Marmorstadt Pyrgos konnte man Steinmetze bei ihrem Handwerk beobachten. Im nahen Kloster Kato Monastiri gab es ein Klosterfest. Wir lernten ein französisches Paar kennen, die ein Wohnmobil und ein Haus auf der Insel hatten. Wir wurden von einer ganzen Familie, die die Dorf-Taverne betrieb ins Herz geschlossen. Es gäbe hier unzählige Geschichten und Geschichtchen zu erzählen über Herzlichkeit, Freundlichkeit, Großzügigkeit und der den echten Griechen eigene Art, Fremde unter ihre Fittiche zu nehmen, auf sie aufzupassen und schließlich zu Freunden zu machen. Da war der Patriarch, der wenn wir unser Essen bekamen unseren Sohn David entführte und in der Küche mit Eis und Süßigkeiten Fütterte, da waren die Kellner, die uns eines Nachts in ihre Disko mitgenommen und in ihren Freundeskreis aufgenommen haben. Da waren Fremde, die uns vom Klosterfest nach Hause gefahren haben, weil es zu dunkel war um zu laufen. Da waren gratis Kaffees, Schnäpse und Weinkaraffen, die ich versuchte mit Trinkgeld wieder zu kompensieren. Doch irgendwann kommt der Tag der Abreise. Und den hatten wir so gelegt, dass wir genau am 15. August in Tinos-Stadt sein würden.
Wie fanden wir den Hafen unserer enttäuschenden Anreise verändert! Kaum hatte man Blick aufs Meer, so erblickte man – neben zahllosen Yachten, Booten und Schaluppen – sage und schreibe acht Kriegsschiffe, die im Hafen vor Anker lagen. Die einstmals staubige und etwas verwaiste Hafenstadt hatte sich in einen brodelnden Schmelztiegel verwandelt. Überall Menschen! Und ein stetiger Strom schob sich den Büßerweg vom Hafen hinauf zur Kirche. Manche liefen, andere krochen auf Knien oder auf allen Vieren, andere wieder maßen die Strecke bis zum Altar mit ihren Leibern.

Und neben den wenigen Touristen und den vielen Griechen von den Inseln, vom Festland, aus dem Ausland, ein anderer Menschenschlag. Frauen in bunten Kleidern und Kopftüchern, Männer in abgetragenen Anzügen, halbnackte Kinder mit von der Sonne gebräunter Haut. Gýftos, wie sie hier genannt werden oder Tsiggános, was in Griechenland bedeutet Roma.
Erste Dokumente über Roma in Griechenland stammen aus dem 11. Jahrhundert. Im 14. Jahrhundert lebten sie am Peloponnes und auf mehreren Inseln. Ab dem 15. Jahrhundert migrierten viele Roma nach Mitteleuropa. Im 19. Jahrhundert kamen Roma aus Moldawien und im 20. Jahrhundert Roma aus der Türkei nach Griechenland. Es gibt verschiedene Gruppen wie rumelische Roma (rumelijake Roma), walachische Roma (Kalpazarja), Cergari (Ficirja), Arlije, rumänische Roma und Handurja, die aus der Türkei über Bulgarien einwanderten.
Und die Panagia Evangelistria ist IHRE Kirche und Mariä Himmelfahrt ist IHR Tag, die Zeit der Zigeuner. Nicht nur um die Ikone der Gottesmutter zu küssen, sondern auch um alle neugeborenen bis einjährigen Kinder zu taufen. Schon am Hafen saugt einen der Menschenstrom ein. Die Schiffe speien Menschen auf den Quai. Sind sie an Land, schon laufen sie los. Und alle scheinen nur ein Ziel zu haben: die Kirche. Ist man auf dem Weg, dann gibt es kein Entrinnen mehr. Unweigerlich wird man zur Basilika gedrängt. Dann verschluckt einen der Eingang und man wird zur Ikone geschoben. Man küsst das Bild der Gottesmutter, ein Priester wischt über das Glas, dass das Bildnis schützt, schon ist der oder die nächste dran. In den Seitenkapellen wird derweilen von acht Priestern im Akkord getauft. Und über allem liegt andächtiges Gemurmel, Kindergeschrei und der monotone Singsang orthodoxer Mönche. Kaum ein Blick zurück auf den Altar, schon wird man von der Menge auf die Stufen vor der Kirche gespült und man schließt sich dem Zug zurück Richtung Hafen an – man kann nicht anders. Von den Kriegsschiffen grüßen Sirenen und Geschützfeuer…

An diesem Tag war es schwer einen Platz in einem der Cafés am Hafen zu bekommen. Irgendwann hatten wir Glück und ergatterten einen Tisch. Das Gepäck hatten wir bis zur Abfahrt der Fähre beim Autoverleih untergestellt (für die letzten Tage hatte ich mir einen Mietwagen genommen und damit die Rückfahrt nach Tinos-Stadt absolviert). Ein letzter griechischer Kaffee, eine letzte Καρέλια mit Blick aufs Meer. Damals hatte ich es mir nicht träumen lassen, dass es fast 20 Jahre dauern würde, bis ich meinen Fuß wieder auf griechischen Boden setzen würde…
Bildrechte: Titelbild von giogio55 auf Pixabay, Bild von VioletaBoneva auf Pixabay, Wikipedia, Eigenes Photo; Tinos (Greece) Mai 2003; Quelle Eρβε; – gemeinfrei, Bild von DanaTentis auf Pixabay; Quellen: Wikipedia, Burgenland-Roma.at.
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Sehr gerne! Mir macht es Freude in Gedanken an diese Orte zurück zu kehren, Orte und Plätze nochmal zu recherchieren und Fotos zu sichten. Und dann natürlich das Schreiben…
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Das sind schöne Erinnerungen, zumindest bleiben uns diese, und wir können sie immer wieder hervorrufen. Danke für den schönen Bericht . Marie
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Sehr gerne. War auch für mich schön diese Erinnerungen wieder hervorzukramen…
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Sehr einnehmend und warmherzig, die Art, wie die Griechen einen unter ihre Fittiche nehmen. Kaum dass du dich versiehst, bist du Teil der Familie (und darfst für immer bleiben?). Ich kann mir vorstellen, dass auch ein solch großes, kirchliches Fest wie Maria Himmelfahrt ein Erlebnis ist, so wie es dort zelebriert wird. Vielleicht ist die Stadt überfüllt, vielleicht ist es laut und hektischer als sonst, aber wenn man die Möglichkeit hat, die Bräuche der Leute mitzukriegen, dann ist es für mich auf Reisen das tollste, was es gibt 🙂
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Ich hatte auf Ostern auf Korfu spekuliert, aber das ist derzeit noch unmöglich. Muss auch ein riesen Spektakel sein. Aber eines Tages wird das schon wieder. Bis dahin bleiben uns die Erinnerungen.
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Selbst mein Freund ist inzwischen soweit: er öffnet die digitalen Ordner auf seinem Rechner bzw. schaut eine Doku, die in einem anderen Land spielt, und plötzlich höre ich tiefe, schmerzerfüllte Seufzer. Ich so: was ist? Und er meint: Ach, mal wieder reisen… Glaubt man kaum, eigentlich bin ich die verrückte von uns zwei…
Manchmal denke ich mir, gut, es war ein Aufruhr und wir hatten alle unsere Action, aber langsam könnte das mit der Pandemie auch mal wieder gut sein… (wenn es nur so einfach wäre)
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